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Stolpersteine in Deutschland

Stein des Anstoßes

Henry Lewkowitz

In Leipzig (Copyright: Erich-Zeigner-Haus)

21. Mai 2024

„Ich sage nicht, dass es keinen Antisemitismus gibt, natürlich ist er sehr stark, aber bis jetzt kann ich nicht sagen, dass wir damit ein Problem hätten“, sagte uns Christophe Woehrle in einem Gespräch über die Aktivitäten des Vereins Stolpersteine in Frankreich. Ganz anders in Deutschland. Dort geraten Stolpersteine immer mehr ins Visier der Rechten und seit kurzem der Linken. Henry Lewkowitz erklärt.

Ebenerdig in den Boden eingelassen, erinnern sie an die Opfer des Nationalsozialismus. Die Idee der Stolpersteine ist nicht neu; seit 1992 verlegt der Kölner Künstler Gunter Demnig die Messingsteine vor den zuletzt freiwillig gewählten Wohnorten von Menschen, die im Nationalsozialismus zu Opfern einer antisemitisch und rassistisch motivierten Verfolgung wurden. Mittlerweile liegen über 105 000 Stolpersteine in über 30 Staaten.

Ebenfalls nicht neu ist die Kritik an dieser Form der Erinnerung: Stolpersteine werden entfernt, beschmiert, mit Farbe und Beton übergossen oder zerkratzt und zerstört. Die Kritik kam dabei bis vor Kurzem vordergründig von Rechtspopulist*innen bzw. Rechtsextremist*innen.

Die bekannte Kritik an den Stolpersteinen

Henry Lewkowitz (Copyright: Erich-Zeigner-Haus)

Sowohl die Dokumentation von Stolpersteinschändungen, als auch generelle Verbote von Kommunen, Stolpersteine im öffentlichen Raum zu verlegen, macht eine grundsätzliche Kritik an dieser Form der Erinnerung deutlich. Bisher waren die Kritiken in all ihren Formen – ob als Sorge über die Nivellierung von Schicksalen, ob als Vorwurf eines kommerziellen Projekts, ob als Befürchtungen erneut „getreten“ zu werden – oder hauptsächlich als haltlose Forderungen nach dem Schlussstrich unter der nationalsozialistischen Geschichte nicht „überraschend“. Diese Argumente waren in demokratischen Prozessen überwindbar und einfach zu entkräften.

Die neue Kritik an den Stolpersteinen von links

Neu hingegen ist, dass mit den Geschehnissen vom 7. Oktober 2023 die Stolpersteine nun auch von der politischen Linken in Frage gestellt werden. Explizit wird beispielsweise auf einem Instagram-Account mit dem Namen „Palästinensische Stolpersteine“ gefordert, dass Holocaustüberlebenden, welche nach 1945 im israelischen Militär kämpften, die Stolpersteine wieder aberkannt werden. Die Botschaft: Kein Gedenken für „Kriegsverbrecher“ – auch nicht, wenn sie von den Nationalsozialisten verfolgt wurden.

Menschen, die jedoch nach einer jahrhundertelangen Verfolgung und Vertreibung sich nun selbst verteidigen konnten, werden in dieser Diffamierungskampagne zu Tätern, die Kriegsverbrechen verübt haben sollen, die mit der Shoah auf eine Stufe gestellt werden. Von Seiten der Rechtspopulisten und Rechtsextremen erlebt man regelmäßig die sogenannte „Täter-Opfer-Umkehr“: Täter werden viktimisiert und in der Öffentlichkeit als die eigentlichen Opfer präsentiert. Dieses Konzept wird nun aber auch zunehmend von linken Aktivisten intendiert: Holocaustopfer werden zu Kriegsverbrechern erklärt.

NIE WIEDER meint NIE WIEDER

Auf der Seite der „palästinensischen Stolpersteine“ heißt es: „Ein selektives NIE WIEDER ist kein NIE WIEDER.“ Es muss die Frage gestellt werden, ob dies tatsächlich noch eine antifaschistische linke Haltung ist. Was nämlich klar zu attestieren ist, ist, dass sich die (partei-)politische Linke seit Oktober 2023 immer weiter spaltet und in der Israelfrage uneins ist.

Stolpersteinverlegung in Taucha und Nossen, 7. Mai 2024 (Copyright: Erich-Zeigner-Haus)

Schnell wird in immer größer werden Kreisen aus berechtigter Kritik an der Politik Israels tertiärer Antisemitismus. Das Existenzrecht Israels wird aberkannt, israelische Künstler sollen von der Biennale in Venedig oder dem Eurovision Song Contest ausgeschlossen werden und werden verfolgt, beschimpft und bedroht. Namhafte Universitäten weltweit werden blockiert und die Verbrechen der Hamas relativierende Parolen skandiert.

Das militärische Engagement von Menschen, welche die Schrecknisse der nationalsozialistischen Verbrechen überlebten, die lernen mussten, sich zu verteidigen, kann kein ernstzunehmendes Argument für die heutige Gleichsetzung mit Verbrechen im Holocaust sein. Anders formuliert: Nichts – und auch nicht der durch die Gruppe „palästinensische Stolpersteine“ explizit genannte 6-Tage-Krieg – ist gleichzusetzen mit der Shoah. Die neue Kritik an den Stolpersteinen erfüllt damit keinen Anspruch auf eine linke emanzipatorische Theorie und geschichtspolitisch adäquate Erinnerungskultur.

Die neu entfachte Schlussstrichdebatte von der politischen Rechten sowie die neuen unrechtmäßigen Holocaustvergleiche von Links stellen womöglich den Anfang vom Ende des bisherigen erinnerungskulturellen Konsenses in Deutschland dar. Es obliegt heute der demokratischen Mehrheit einer grundsätzlichen Infragestellung von Erinnerungskultur entgegenzuwirken und die Zentralität der erinnerungskulturellen Singularität des Holocaust weiter zu betonen.

Der Autor

Henry Lewkowitz studierte Philosophie und Politikwissenschaft in Leipzig sowie Geschichte und Kulturwissenschaften an der Fernuniversität Hagen. Seit 2016 ist er Generaldirektor und zweiter Vorsitzender des Verwaltungsrates des Erich-Zeigner-Hauses in Leipzig. Er ist außerdem Referent im Auftrag des Fördervereins Ökologische Freiwilligendienste in Berlin. 2023 erhielt er die Goldene Ehrennadel der Stadt Leipzig für sein ehrenamtliches Engagement.

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