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Corona auf Réunion

Zeitversetzte Pandemie

Ortwin Ziemer

Vielen ist die paradiesische Vulkaninsel im Indischen Ozean unbekannt. Dabei gehört La Réunion zu Frankreich und ist somit der südlichste Punkt Europas, © dpa, Foto: IRT / Serge Gélabert

5. Juli 2021

Während die Corona-Vorschriften in Frankreich Ende Juni 2021 weitestgehend gelockert wurden, kann in den französischen Überseegebieten von „Normalität“ keine Rede sein, wie das Beispiel des mit Abstand bevölkerungsreichsten Überseegebietes Réunion und seinen rund 860.000 Einwohnerinnen und Einwohnern zeigt.

Wenige Tage vor der schrittweisen Aufhebung der Corona-Einschränkungen im französischen Mutterland am 19. Mai 2021 wurde das Überseedepartement Französisch-Guyana wegen geringer Impfrate und verstärkter Verbreitung einer aggressiven brasilianischen Virusmutante vor allem durch illegale Grenzgänger aus Surinam und Brasilien wieder stark angestiegenen Inzidenzwertes erneut nahezu lahmgelegt; anderen Überseegebieten erging es nicht besser.

Unterschiedliches Krisenmanagement

Vielerorts hatte die französische Übersee-Bevölkerung in den vergangenen knapp anderthalb Jahren den Eindruck, dass das Corona-Krisenmanagement in völligem Gegensatz zu den Maßnahmen auf dem kontinentalen Festland stand – nicht unbedingt, was die Maßnahmen selbst, wohl aber was deren Begründung vor Ort, Plausibilität, Wirksamkeit und Widersprüche angeht.

Letztere brachte der Moderator des öffentlich-rechtlichen Regionalsenders Réunion La 1ère, Jean-Marc Collienne, Mitte März 2021 auf den Punkt: „Wie kann man es erklären, dass am 17. März 2020 auch auf Réunion ein totaler Lockdown verhängt wurde, obwohl damals das Virus bei uns quasi noch überhaupt nicht im Umlauf war, während jetzt, ein Jahr später, wo die Fallzahlen wieder deutlich steigen, keine strenge Ausgangssperre mehr herrscht?“ Um sich dieses Paradoxon vergegenwärtigen zu können, muss man den Verlauf der Epidemie auf der Insel Revue passieren lassen.

Chronologie einer Epidemie

Réunion erlebt den Ausbruch der Pandemie aufgrund seiner Insellage zunächst und auch später zeitversetzt. Nachdem im französischen Mutterland die ersten drei Corona-Fälle bereits am 23. Januar 2020 bekannt werden, registriert das lokale Gesundheitsamt (ARS) den ersten Fall auf Réunion Fall erst rund anderthalb Monate später, am 11. März 2020: Ein über 80jähriger reunionesischer Tourist, der über Paris von einer Karibikkreuzfahrt zurückgekehrt war, ist infiziert. Die Epidemie erreicht die Insel im Zeichen der Globalisierung.

Nachdem Präsident Macron in seiner Kriegserklärung“ an das Virus am 16.  März 2020 die erste nationale Ausgangssperre ab dem folgenden Tag verhängt hat, setzt die Präfektur Réunions am 20. März 2020 den Aus- und Einreisen auf die Insel ohne zwingenden Reisegrund ein Ende, um die Verbreitung der Pandemie zumindest einzudämmen. Zwei Tage später schnellt die Fallzahl bereits auf 75; die parallel dazu grassierende Denguefieber-Epidemie verursacht zusätzliche Sorgen. Ende März 2020 entsteht durch das Verhältnis der Corona-Fallzahlen und der für Covid-Patienten zur Verfügung stehenden ca. 80 Intensiv-Krankenhausbetten erstmals eine angespannte Lage. Wie im Mutterland werden die Schulen geschlossen, von einem Tag auf den anderen Fernunterricht eingeführt. Mitte April beläuft sich die Zahl der Coronafälle auf ca. 400: offensichtlich trägt die starke Einschränkung des Flugverkehrs Früchte.

Gleichzeitig ist die Einführung flächendeckender Covid-Tests laut Überseeministerin Annick Girardin aus logistischen Gründen nicht möglich. Am 11. Mai 2020 wird auf der Insel, wie im Rest des Landes, nach rund sieben Wochen die Ausgangssperre wieder aufgehoben, da sich die Lage stabilisiert zu haben scheint. Sie geht mir einer weniger konsequenten und rigorosen Einhaltung der AHA-Regeln (Abstand halten, Hygiene beachten und im Alltag Maske tragen) einher …

Wie im Mutterland

Ab 2. Juni 2020 dürfen auf der Insel wie auch im Mutterland Bars, Cafés, Bistros und Restaurants wieder öffnen und der Entfernungsradius vom Wohnort wird aufgehoben. Réunion gehört zu diesem Zeitpunkt zu den „grünen Zonen“, wo das Virus nur wenig zirkuliert. Die erste eingeführte nationale Anti-Corona-App „StopCovid“ setzt sich auf Réunion ebenso wie anderenorts zunächst kaum durch, vor allem aus Gründen des Datenschutzes und Zweifeln an der Wirksamkeit.

In der Übergangszeit zwischen dem Ende des ersten strikten Lockdowns und dem Beginn der zweiten Corona-Welle erscheinen die lokal getroffenen Schutzmaßnahmen der Bevölkerung zunehmend wenig kohärent, so etwa die Maskenpflicht in und um Schulen und Universitäten sowie in für öffentliches Publikum zugänglichen, geschlossen Räumen wie Gaststätten, im Einzelhandel oder in Behörden ab dem 13. August bzw. eine Woche später das Verbot von Versammlungen von mehr als 10 Personen sowie von Mannschafts- und Kampfsportarten.

Nur mühsam setzt sich die Erkenntnis der Notwendigkeit dieser Maßnahmen im kollektiven Bewusstsein durch. Die Zahl der neu Infizierten liegt Mitte/Ende August 2020 täglich bei über 80; Anfang September sind es über 100, von denen drei Viertel lokalen Ursprungs sind. Nachdem das Virus kurz zuvor nur in einigen Gemeinden grassierte, ist jetzt die gesamte Insel betroffen. Der zeitversetzte Epidemie-Verlauf zum Mutterland wird immer deutlicher. Kulturveranstaltungen finden nun nicht mehr statt; Casinos, Nachtclubs und Diskotheken werden geschlossen. Auch der international bekannte Extrem-Berglauf „Grand Raid“ wird 2020 vom Inselpräfekten gestrichen.

Mitte September 2020 scheint sich die Pandemie auf Réunion auf hohem Niveau zu stabilisieren. Die Überführung von Covid-Patienten von der Nachbarinsel Mayotte, wo das lokale Gesundheitssystem bereits seit April 2020 völlig überfordert ist, nimmt indessen zu. Als Staatspräsident Emmanuel Macron schließlich am 28. Oktober 2020 die zweite, weniger strikte Ausgangssperre ankündigt, lässt er den Übersee-Präfekten ausdrücklich Entscheidungsspielraum. So ist Martinique erneut von strikten Maßnahmen betroffen, während auf Réunion das sozioökonomische Leben fast normal weitergeht und auch die alltägliche Bewegungsfreiheit weitgehend erhalten bleibt.

Der Vaccinobus Réunion auf Tour, © Ortwin Ziemer

Die dritte Welle

Am 31. März 2021 verhängt der Staatspräsident angesichts der „dritten Welle“ den dritten nationalen Lockdown. Auf Réunion passt Präfekt Jacques Billant die Maßnahmen erneut mit Ausnahmeregelungen an (z. B. bezüglich Schulsporthallen, öffentliche Mediatheken und Stadtbibliotheken), obwohl sich die epidemische Situation auf der Insel deutlich zugespitzt hat. So sind 93 % Prozent der Aufnahmekapazitäten der Intensivstationen mit Beatmungsgeräten Anfang April 2021 erschöpft.

Auf Réunion ist die südafrikanische Virusmutante angekommen und beginnt, sich rasant auszubereiten. Gastronomiebetriebe (Ausnahme: der Außer-Haus-Verkauf), Kinos, Theater, Kasinos, Fitnessstudios und Einzelhandelsgeschäfte in großen Einkaufszentren müssen wieder schließen – der Schulbetrieb hingegen, wenn auch in Form von Hybrid-Unterricht, geht weiter.

Die Impfquote mit den Vakzinen von BioNTech/Pfizer, Moderna, und Johnson & Johnson liegt am 19. Juni 2021 bei 25 % der Einwohnerinnen und Einwohnern (erste Impfdosis). 17,3 % sind zu diesem Zeitpunkt vollständig geimpft. Impfdosen stehen mittlerweile in ausreichender Anzahl zur Verfügung und sind wie in Kontinentalfrankreich ab 12 Jahren (bis zum 18. Lebensjahr mit Einwilligung der Erziehungsberechtigten) freigegeben. Verimpfungen sind auch bei niedergelassenen Ärzten, in Apotheken und dem mobilen Vaccinobus der Agence Régionale de Santé (ARS) möglich.

Catherine Cotto, die Leiterin des Vaccinobus Réunion, erklärt: „Der Impfbus hat den Vorteil, ohne Termin und administrativen Aufwand zugänglich zu sein. Wir hoffen sehr, dass er dazu anregen wird, sich verstärkt und massiv impfen zu lassen, was die einzige Möglichkeit ist, die immer noch deutlich zu geringe Impfrate auf Réunion zu erhöhen. Und dies ganz besonders in einem Moment, wo die sehr ansteckende, aus Indien stammende Delta-Virusmutante sich auf der Insel verstärkt auszubreiten beginnt und insbesondere junge Menschen infiziert. Zudem deuten erste Erkenntnisse darauf hin, dass die auf Réunion verwendeten Impfstoffe einen wirksamen Schutz dagegen bieten.“

Zugleich werden auf der Insel ab dem 1. Juli im Zuge der Aufhebung des nationalen Gesundheitsnotstandes die Maskenpflicht im Freien und auch die bislang noch bestehende nächtliche Ausgangssperre aufgehoben. Die Sperrstunde in Gaststätten liegt allerdings vorerst weiter bei 23 Uhr.

Die aktuelle Lage

Ende Juni 2021 ist die weitgehende Aufhebung der Einschränkungen wie im Mutterland, von der Präfektur offiziell „Covid-Deeskalationsplan“ genannt, unterdessen weiterhin ungewiss. Die 7-Tage-Inzidenz liegt immer noch bei etwa 150 neuen Fällen je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner (in Frankreich am 25. Juni 2021: 23,9). Das Auswärtige Amt warnt daher derzeit vor nicht notwendigen, touristischen Reisen in die französischen Überseegebiete Guadeloupe, Französisch-Guyana, Réunion und Saint-Martin. Dennoch ist Tourismus für Geimpfte wieder uneingeschränkt möglich. Es gelten die aktuellen Corona-Regeln vor Ort.

Dialog Dialogue

1 Kommentare/Commentaires

  1. Inzwischen wurde für die Überseedepartements Martinique und Réunion erneut der Gesundheitsnotstand verhängt; auf der Maskareneninsel zudem wieder mit nächtlicher Ausgangssperre, da der Inzidenzwert Mitte Juli 2021 bei ca. 170 liegt und die Impfrate weiter weniger als die Hälfte des Mutterlandes beträgt (wo am 14. Juli 2021 auch erst 39 von 100 Einwohnerinnen und Einwohnern vollständig geimpft sind).

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