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Energiepreise und Inflation

Krisenstimmung in Frankreich

Martin Vogler

Zehntausende streikten am 18. Oktober 2022 wie hier in Paris für höhere Gehälter. © picture alliance/dpa/MAXPPP | Le Parisien / Arnaud Journois

15. September 2022

Obwohl die französische Regierung im Kampf gegen die Inflation und deren Folgen erfolgreicher agiert als die in Deutschland, beherrscht die Angst vor dem Volkszorn ihr Handeln. Die Furcht vor einem Wiedererstarken der Gelbwesten-Bewegung, der gilets jaunes, bestimmt derzeit die Politik.

Eigentlich könnten die Franzosen mit ihrer knapp sechsprozentigen Inflationsrate im September 2022 zufrieden sein: Der Rest Europas – auch Deutschland – pendelt sich schließlich im Durchschnitt bei mehr als zehn Prozent ein. Die Regierung von Staatpräsident Emmanuel Macron erkauft sich die geringeren Preissteigerungen allerdings durch teure Preisdämpfungs-Programme. Diese kosten allein 2022 rund 16 Milliarden Euro; 2023 werden es voraussichtlich 45 Milliarden Euro sein. Und irgendwann müssen die Wohltaten – wahrscheinlich über höhere Steuern – zurückgezahlt werden, auch wenn das momentan gerne verdrängt wird.

Preiswertes Benzin, gedeckelte Gas- und Strompreise

Für den Staat besonders teuer ist der seit September 2022 geltende Tankrabatt von 30 Cent pro Liter, der eigentlich nur für zwei Monate geplant war, nun aber bis mindestens zum Jahresende verlängert wurde. Er führte dazu, dass französische Autofahrer – und solche aus grenznahen Regionen der Nachbarländer – schon für 1,40 Euro E10-Benzin bekamen, zumindest bis Raffinerie-Streiks der Regierung einen Strich durch die Rechnung machten und die Versorgung nicht mehr überall gewährleistet war.

Auch die Gas- und Strompreise sind bis Ende Dezember 2022 gedeckelt, 2023 will die Regierung dafür sorgen, dass sie um maximal 15 Prozent erhöht werden. Finanzminister Bruno Le Maire lobte sich selbst: „Wir schützen unsere Haushalte und unsere Firmen gegen steigende Energiepreise.“ Außerdem hofft vor allem Frankreich beim Gas auf Vorteile eines umstrittenen gemeinsamen Einkaufs der EU-Länder mit hilfreichem Preisdeckel.

Undankbare Bevölkerung

Trotz allem ist die französische Bevölkerung undankbar: Laut einer Umfrage der Sonntagszeitung Le Journal du Dimanche im Oktober 2022 finden 82 Prozent, die Regierung tue zu wenig, um der Inflation und damit dem Schrumpfen ihres persönlichen Budgets Vernünftiges entgegenzusetzen.

Denn ihre Meinung bilden sich viele Franzosen nicht nur beim Tanken oder Heizen: Restaurants beispielsweise sind – gefühlt allerdings weniger stark als in Deutschland – teurer geworden, viele Lebensmittel sowieso. Und beim Bäcker liegt der in Frankreich symbolisch wichtige Baguette-Preis schon länger nicht mehr unter einem Euro. Für spezielle Baguette-Sorten wie „Tradition“ nähert er sich bereits der Zwei-Euro-Grenze. Die Regierung fürchtet, dass die Bürger sich alleingelassen fühlen und ihre Politik als forsches „débrouillez-vous“ (helft auch selbst) empfinden.

Angst vor einem heißen Herbst und Winter

Die Angst vor einem heißen Herbst und Winter ist bei der verunsicherten Regierung groß. Sie hat seit der Parlamentswahl im Juni 2022 keine absolute Mehrheit mehr und verabschiedete sogar den Haushaltsplan für 2023 nach sechs Tagen heftigster Parlamentsdebatten mit 3349 Änderungsanträgen nur mit Hilfe des umstrittenen Verfassungsartikels 49,3: Dank dieser französischen „Basta“-Regel im Präsidialsystem kann das Budget auch ohne Abstimmung verabschiedet werden. Premierministerin Élisabeth Borne begründete diese – in Frankreich nicht ganz unübliche Maßnahme – mit den Worten „Das französische Volk erwartet von uns Ergebnisse. Deshalb übernehme ich auf Grundlage von Artikel 49,3 der Verfassung die Verantwortung meiner Regierung für den ersten Teil des Entwurfs des Haushaltsgesetzes für 2023.“

Inhaltlich fällt die Kritik am Haushalt sehr unterschiedlich aus: Das linke Bündnis Nupes (Nouvelle union populaire écologique et sociale) sieht einen Sparhaushalt, will höhere Sozialausgaben sowie Investitionen in den Klimaschutz. Die Konservativen finden den Etat dagegen unverantwortlich hoch. Oliver Marleix (Les Républicains): „Er ist gefährlich für die finanzielle Situation unseres Landes.“

Protest auf der Straße

Der Artikel 49.3 hilft zwar kurzfristig beim Regieren. Der politische Imageschaden jedoch ist hoch, weil er deutlich zeigt, dass das Kabinett auf parlamentarischem Weg keine Mehrheit findet. Die Opposition schäumt und beklagt das Aushebeln der demokratischen Ordnung. Sie kündigt Misstrauensvoten an, wird aber angesichts ihrer Zerstrittenheit und taktischer Überlegungen damit wohl keinen Erfolg haben. Das alles ist für den Staatspräsidenten und seine Regierung sehr nervenaufreibend, die größere Gefahr droht indes nicht in der Assemblée nationale, sondern von der Straße.

Bemerkenswert ist, dass die Proteste der Bevölkerung gegen die Steigerung der Lebenshaltungskosten – zumindest für französische Verhältnisse – bis Ende Oktober 2022 moderat blieben. In Paris liefen zwar zehntausende Linke, Gewerkschafter und auch einige Gelbwesten bei einem sonntäglichen „Marsch gegen das teure Leben und die klimatische Tatenlosigkeit“ mit. Zwei Tage später dann, am 18. Oktober 2022, legte ein eintägiger Generalstreik das Land lahm – (vorerst) ohne weitergehende Folgen.

Die TGV-Schnellzüge fuhren fast normal, die Streiks betrafen neben dem Transportwesen unter anderem Energieversorgung, Teile des öffentlichen Dienstes und des Erziehungswesens Éducation nationale. Immerhin schafften es die Gewerkschaften am Streiktag, in 150 Städten Demonstranten im ganzen Land zu mobilisieren. Weitere Streiktage sind bereits angekündigt. Unter anderem steht die Forderung im Raum, den gesetzlichen Mindestlohn SMIC (Salaire minimum interprofessionnel de croissance) von 1645 auf 2000 Euro monatlich zu erhöhen.

„Provokanter Angriff auf das Streikrecht“

Auslöser für den Generalstreik am 18. Oktober 2022 hatte zumindest indirekt mit der Inflation zu tun: Um die Benzin- und Dieselversorgung im Lande sicherzustellen, hatte die Regierung streikende Mitarbeiter von Raffinerien zur Arbeit zwangsverpflichtet. Mit dieser „réquisition“ wollte sie die angesichts vieler geschlossener Tankstellen nervös werdenden Autofahrer ruhigstellen, lieferte aber den Gewerkschaften mit diesem „provokanten Angriff auf das Streikrecht“ scharfe Munition.

Oktober 2022: Fehlanzeige an einer Tankstelle in Antibes, © Martin Vogler

Bei den Raffinerie-Streiks, die bereits Ende September begonnen hatten, ging es primär ums Geld: Obwohl viele Ölkonzerne bereits Lohnsteigerungen zugestimmt hatten, forderte vor allem die kommunistische CGT eine hausse des salaires von zehn Prozent, andere Gewerkschaften wollten sich mit 7,5 Prozent begnügen. Neben Exxon Mobil (Esso) geriet vor allem TotalEnergies ins Visier, weil Total im ersten Halbjahr 2022 mehr als zehn Milliarden Dollar Gewinn ausgewiesen hatte. Zeitweise waren sechs der sieben französischen Raffinerien von den Streiks betroffen.

Als dann an immer mehr Tankstellen zumindest manche Treibstoffsorten nicht mehr vorrätig waren und andere Stationen komplett schlossen, wuchs in der Regierung die Angst vor genervten Autofahrern. Hatte anfangs noch die Hälfte der Franzosen die Raffinerie-Streiks für berechtigt gehalten, schwand die Zustimmung zunehmend. Laut offiziellen Angaben hatten – mit starken regionalen Schwankungen – mehr als 30 Prozent der Tankstellen Nachschubprobleme. Wobei der subjektive Eindruck ein anderer war: Nur wenige Tankstellen schienen geöffnet zu sein – und das auch nur ein paar Stunden und mit langem Rückstau. Analysen von Medien ergaben mindestens 50 Prozent betroffene Tankstellen; immerhin war die Versorgung auf den Autobahnen weitgehend gesichert.

Themen mit Sprengkraft

Während etwa deutsche Urlauber in Internetforen fast panisch die Situation diskutierten und Horror-Erlebnisse austauschten („Ich bin jetzt 200 Kilometer vergeblich herumgefahren, um Benzin zu finden. Jetzt ist mein Tank leer. Wie komme ich nur nach Hause?“) wirkten die streikerfahrenen Franzosen lange gelassener. Der Verkehr schien etwas geringer als sonst zu sein, außer, wenn die Lenker eine offene Tankstelle suchten. Da es zwar viele Apps gibt, die zeigen sollen, wo es noch Benzin gibt, kurvten viele mit dem Mobiltelefon in der Hand herum: Die Informationen der Apps stimmten oft nicht. Beispiel: Mehrere Tankstellen verfügten angeblich Mitte Oktober noch über Benzin, saßen aber schon seit Tagen auf dem Trockenen.

Der französischen Regierung war stets klar, dass die Stimmung schnell kippen kann. Fahrschulen und Taxiunternehmen etwa sahen ihr Geschäft bedroht – und wer noch Treibstoff bekam, ärgerte sich über teils extrem gestiegene Preise. Landbewohner klagten, dass sie – im Gegensatz zur Elite in Paris, die sich im Zweifelsfall Elektro-Autos leisten kann – auf ihre Verbrenner-Autos angewiesen sind. Die Tourismusbranche litt unter Stornierungen. Die Regierung versuchte in dieser Situation verbal zu beruhigen; in vielen Departements wurde zudem, um Hamsterkäufe zu verhindern, das Betanken von Kanistern verboten und die Literzahl teils generell auf 30 limitiert.

All diese Einzelmaßnahmen und eine etwas nachlassende Streikbereitschaft – einige Gewerkschaften hatten Lohnabschlüssen zugestimmt – führten zumindest dazu, dass pünktlich zum Start der Herbstferien in der letzten Oktoberwoche 2022 eine leichte Entspannung einsetzte – zumindest an der „Benzinfront“. Doch die Regierung bleibt nervös – wartet doch bei der aufgeschobenen Rentenreform, die u. a. die Erhöhung des Renteneintrittsalters vorsieht, bereits das nächste Thema mit Sprengkraft auf sie.

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