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Europe Écologie Les Verts

Städte in grünen Händen

Birgit Holzer

Bordeaux, © saiko3p, Shutterstock

02. Oktober 2020

Seit den Kommunalwahlen im Juni 2020 werden große französische Städte wie Lyon, Marseille, Straßburg und Bordeaux von Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern der Grünen regiert, die durch einen Quereinstieg zur Politik kamen.

Umfragen hatten vor den Municipales 2020 das „grüne Erdbeben“ in großen französischen Städten vorhergesagt. Dass es so massiv kommen würde, überraschte viele aber denn doch. „Europa Ökologie – Die Grünen“ (EELV, Europe Écologie Les Verts), eher eine Bewegung als eine Partei, holte beim zweiten Wahlgang im Juni nicht nur zahlreiche neue Sitze in den Stadt- und Gemeinderäten, sondern eroberte auch die Rathäuser von Metropolen wie Marseille, Bordeaux, Lyon und Straßburg. Bis dahin hielt EELV mit dem – wiedergewählten – Bürgermeister Éric Piolle in Grenoble nur ein Rathaus einer mittelgroßen Stadt.

Mit der Ärztin Michèle Rubirola in Marseille, dem Anwalt Pierre Hurmic in Bordeaux, dem früheren Menschenrechtsaktivisten Grégory Doucet in Lyon und der Juristin Jeanne Barseghian in Straßburg ist nunmehr eine neue Generation von Politikerinnen und Politikern an der Macht. Schon jetzt lassen sich mit ihnen erste Konturen einer Politik erkennen, die mit alten Gewohnheiten brechen will.

„Marseiller Frühling“

Marseille ist keine Fahrradstadt, sie liegt teilweise auf Hügeln und hat einen chaotischen Straßenverkehr. Fahrradfahren hat hier keine Tradition. Noch nicht. Mit dem Worten „Wie wäre es, wenn Marseille mit dem Rad besser atmen würde?“ werben inzwischen Plakate für ein Jahres-Abo der städtischen Leihräder.

Marseille, © Bellena, Shutterstock

Die frisch gewählte Bürgermeisterin Michèle Rubirola will so einiges in ihrer Stadt ändern und der Verkehr gehört primär dazu. „Le Printemps Marseillais“, der „Marseiller Frühling“, war der Slogan der grün-linken Koalition, mit der die 63-Jährige bei den Kommunalwahlen  nach jahrzehntelanger Herrschaft der bürgerlichen Rechten siegte. Er erinnert – für die Hafenstadt am Mittelmeer aus naheliegenden Gründen – an jenen des „Arabischen Frühlings“.

„Das Clansystem, die Vetternwirtschaft, die Günstlingswirtschaft sind zu Ende“, verkündete sie im Moment ihres Triumphs, „dieses Projekt ist das einer grüneren, gerechteren und demokratischeren Stadt.“ Sie werde, so ihr Versprechen, die Brüche zwischen den verarmten und durch mangelnde Infrastrukturen abgeschnittenen Vierteln im Norden, wo  Rubirola lange als Ärztin praktiziert hat, und den besser gestellten Gegenden im Süden verringern.

Der Soziologe Jean Viard, ein Kenner der 870.000-Einwohner-Metropole, bezeichnet die Wahl einer bis dahin weitgehend unbekannten Grünen als „großes Ereignis, man kann von einem Stimmungswechsel sprechen“: Es handele sich um eine neue Politiker-Generation „normaler Leute“, die nicht dem politischen Establishment entstammen – und genau diesen Wechsel wollten die Wähler.

Der dramatische Einsturz eines baufälligen Hauses im November 2018 mit acht Toten, der das in Teilen vorherrschende Wohnungselend schlagartig ans Licht brachte, war einer der Hauptgründe, warum sich viele von den bisherigen Verantwortlichen abwandten. Rubirola hat folglich massive Investitionen in den Wohnungsbau versprochen, aber auch die Renovierung von Schulen und bessere Verbindungen mit öffentlichen Transportmitteln. Und sie legte einen „Fahrrad-Plan“ mit einem Budget von 60 Millionen Euro für fünf Jahre auf: Er sieht den Bau von insgesamt 280 Kilometer gesicherten Radwegen, die Begrenzung der Geschwindigkeit für Autos in vielen Stadtbereichen auf 30 Stundenkilometer und – wie in Paris – Prämien für den Kauf eines Elektrorads vor.

Straßburg, © Leonid Andronov, Adobe Stock

„Klima-Notstand“ in Straßburg

Die 39-jährige neue Bürgermeisterin von Straßburg, Jeanne Barseghian, rief für ihre Stadt derweil den „Klima-Notstand“ aus: Sie nahm eine Anleihe von 350 Millionen Euro auf, um unter anderem ehrgeizige Begrünungs-Projekte und thermische Gebäude-Renovierungen zu finanzieren. Die auf Umweltrecht spezialisierte Juristin hat angekündigt, die Radwege über die 700 vorhandenen Kilometer hinaus um jährlich jeweils 15 Kilometer zu erweitern. Außerdem soll die Energieversorgung Straßburgs bis 2050 vollständig aus erneuerbaren Energien generiert werden.

Provokantes in Bordeaux und Lyon

Die neuen grünen Stadtoberhäupter von Bordeaux und Lyon, Pierre Hurmic und Grégory Doucet, greifen derweil populäre Traditionen an: Hurmic erklärte, er werde im Advent keine „toten Bäume“, gemeint sind Weihnachtsbäume, in der Stadt aufstellen. Denn sie passten „überhaupt nicht zu unserer Vorstellung von Begrünung“, so der 65-Jährige.

Sein Lyonner Kollege Grégory Doucet kritisierte seinerseits die laufende Tour de France. Ihn störe das „Macho-Image“ eines Sports, bei dem nur Männer gegeneinander antreten; außerdem sei die Tour umweltschädlich: „Wie viele Autos mit Verbrennungsmotor sind unterwegs, wie viele Abfälle werden produziert? Große Sportveranstaltungen, die sich nicht zuallererst die Frage nach ihrem ökologischen Fußabdruck stellen, sind nicht mehr akzeptabel“, so Doucet.

Lyon, © 360degreeAerial, Shutterstock

Von ihren polemischen Äußerungen abgesehen kündigten Hurmic wie auch Doucet umfangreiche Maßnahmen für den Klima- und Umweltschutz sowie eine neue Wohnungsbaupolitik an: laufende Immobilienprogramme werden vorerst gestoppt und kommen auf den Prüfstand, außerdem ist ein Mietendeckel geplant. Autos sollen Fußgängern, Radfahrer und der innerstädtischen Begrünung mehr und mehr weichen; „Fahrrad-Pläne“ gibt es natürlich auch in Bordeaux und Lyon.

Doucet denkt an Express-Radwege – und an Bio-Essen in den Schulkantinen der 500.000-Einwohner-Stadt. Von sich reden machte er mit seinem „Gender-Budget“: Die Ausgabe „jeden einzelnen Euros“ der 700 städtischen Haushalts-Millionen soll auf die Frage hin überprüft werden, ob er die Gleichberechtigung von Frauen und Männern fördert.

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