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Deutsch-französische Beziehungen

Finden Deutschland und Frankreich wieder zusammen?

Klaus Hofmann

Berlin am 26. Mai 2024 (Copyright: Imago)

27. Mai 2024

Den Anfang machten Gérard Araud und Ulrike Franke. Vor wenigen Tagen äußerte sich Jean-Marie Magro zum Stand der bilateralen Beziehungen und forderte: „Hören wir auf mit der Niveaulosigkeit der deutsch-französischen Debatte!“ Nun greift Klaus Hofmann zur Feder. Er schreibt: Die Schreie der Opfer von Butscha und das andauernde Morden Russlands in der Ukraine haben das Zeug, Europa aus seiner Lethargie zu wecken.

In Deutschland und Frankreich haben sich alle Übereinstimmungen und Gegensätze, alle Tendenzen und Potenziale, alles Glück und Unglück unseres Kontinents in ihrer konzentriertesten Form materialisiert. Politisch, ideologisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich, kriegerisch und religiös. Zwei großartige Länder, mit unterschiedlichen Wegen zum nation building: Beide Modelle mit enormer aber unterschiedlicher Anziehungskraft.

Deutschland und Frankreich in der EU: das war und ist der Kampf zweier Linien, zweier Lebensentwürfe, zweier Lebensphilosophien, zweier Geschichten in Europa, in der hinter Frankreich die Südeuropäer und hinter Deutschland die Nordeuropäer stehen. Und für Frankreich und den Süden gilt der Primat der Politik und für Deutschland und den Norden der Primat der Wirtschaft und des Rechts, wie es der Soziologe Wolfgang Streeck beschreibt.  Er schlussfolgerte daraus die Unvereinbarkeit der beiden Modelle und den Untergang der EU. An die Erzählung, dass Deutschland und Frankreich ihre Talente und Widersprüche über die europäische Ebene zusammenführen und ausgleichen können, glaube er nicht.

Ende der Geschichte und Europas Müdigkeit

Als der Literaturwissenschaftler und Universalgelehrte George Steiner 1994 seinen Aufsatz über den müde gewordenen europäischen Stier und die endgültige Erschöpfung seiner Kräfte veröffentlichte, widersprach er der damals vorherrschenden Erzählung des Francis Fukuyama, der vom Ende der Geschichte, von Friede, Freiheit, ewigwährender Demokratie und der Pax Americana sprach. So kam es nicht und heute fragen wir uns, ob Steiner recht hatte, als er das Maastricht-Europa als eine mythenlose, aufgeblasene Bürokratie bezeichnete, die zu einem byzantinischen System kommerzieller und technokratischer Vereinbarungen geworden sei, in der sich Stammesfehden, religiöse Abneigungen und Chauvinismus aller Schattierungen tummelten. Und er schlussfolgerte, 1994, wohlgemerkt: „Wenn wir nicht unerhörtes Glück haben, dann wird Europa wieder Masseneinwanderungen, Heimatlosigkeit und Rassenkonflikte erleben.“ Heute haben wir Masseneinwanderungen, Heimatlosigkeit, Rassenkonflikte.

Clausewitz zu Ende denken

René Girard, Literaturwissenschaftler, Kulturanthropologe, Religionswissenschaftler und Papstberater veröffentlichte 2007 ein Buch mit dem Titel „Clausewitz zu Ende denken: im Angesicht der Apokalypse“: Die Zeit der regelbasierten internationalen Ordnungen sei vorbei, der Krieg zur Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln geworden. Am Beispiel der deutsch-französischen Geschichte seit Napoleon zeigte er, wie alle moralischen und physischen Kräfte eines Staates als Mittel im Krieg eingesetzt werden können. Und wie dieser 150 Jahre währende Hass zu drei Kriegen und in den Untergang führte: Frankreich in Verdun und Deutschland in Stalingrad. Alles, was die Beziehung zwischen den beiden Ländern ausmache, sei schon in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts angelegt, 1806 ein Epochenjahr wie später 1989. Aber auch schon damals die hellsichtige Voraussicht über die Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen einer Germaine de Stael: In ihrem 1813 erschienen Buch, „De l’Allemagne“, plädiert sie für einen echten deutsch-französischen Dialog, ansonsten sei Europa verloren. Wie recht sie hatte.

Höhen und Tiefen in der deutsch-französischen Geschichte

Nur unmittelbar nach der Stunde Null 1945, nach 1000 Jahren Rivalität und 150 Jahren Hass, waren wir Deutschen und Franzosen endlich einmal weitgehend einig. Das schönste Bild dieses alten Europas ist das aus der Kathedrale von Reims vom 8. Juli 1962. Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, nebeneinander und tief versunken. Wenig später, am 22. Januar 1963 wurde der deutsch-französische Freundschaftsvertrag unterzeichnet. Mit dem Fall der Mauer rückte Deutschland in die zentrale Lage Europas, auch dank der Osterweiterung der EU von 2004 bis 2007. Schon damals sagte Henry Kissinger, dass Frankreich der große Verlierer von 1989 sei.

Klaus Hofmann (Copyright: Klaus Hofmann)

2008 kommt es zum Fall von Lehmann Brothers und die Welt steht vor dem Zusammenbruch des Finanzsystems. Die Nickeligkeiten zwischen den Regierungen werden stärker. Sarkozy will eine Mittelmeerunion gründen, Merkel blockiert. Insgesamt denkt Frankreich, dass Deutschland zu exportorientiert und hartwährungsfixiert ist. Und Deutschland denkt, dass Frankreich zu protektionistisch, nuklear und nicht sparsam genug ist. Doch zunächst beruhigte sich alles. Bis dann nach Finanzkrise, Klimakrise und Corona der vierte apokalyptische Reiter in Europa auftritt: der Krieg. Die deutsch-französischen Gräben werden unübersehbar. Was haben wir nicht alles gehört über die unterschiedliche Einschätzung der Atomkraft, der Energie, des Klimawandels. Oder über den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Oder über gemeinsame europäische Schulden. Über Migration und Asyl. Über den Umgang mit Putin und Russland. Insgesamt kracht es so sehr, dass Robert Habeck resümierte: „Die deutsch-französische Freundschaft ist in Wahrheit eine Polarität, die man so deuten muss, dass wir uns in nichts einig sind.“

Paris und Berlin finden oft zusammen

Allen Misstönen zum Trotz gibt es auch andere Signale, ähnliche Entwicklungen, Parallelitäten und kontinuierlichen Austausch. Und gemeinsame Lösungen. Die beiden Länder kommen öfter zusammen als der gemeine Bürger denkt und wahrnimmt. Sie reagieren ähnlich auf externe Herausforderungen. Sie sind institutionell gut vernetzt. Die Verträge von 1963 und 2019 (Aachener Vertrag) funktionieren nicht schlecht. In beiden Ländern gibt es ähnliche Entwicklungen. In beiden Ländern sind die Anführer, Macron und Scholz ähnlich unbeliebt. Die Krise der repräsentativen Demokratie – Gelbwesten, Rechtsextreme – hat beide erreicht. Beide Länder rücken nach rechts, weil der Glaube an die Vorzüge des wirtschaftsliberalen Modells verloren gegangen ist und die Fragen der nationalen Identität in den Vordergrund gerückt sind. Beide ziehen in der Migrations- und Asylpolitik seit letztem Herbst am gleichen Strang. Es gibt einen reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakt, mit leicht geänderten Verschuldens- und Sanktionsregeln. Man hat sich auf eine Strommarktreform geeinigt, Banken- und Kapitalunion sind nicht außer Reichweite, ganz wie eine stärkere gemeinsame Industriepolitik. Sogar bei einer gemeinsamen Rüstungszusammenarbeit gibt es Fortschritte, so beim Panzersystem MGCS und auch beim Kampflugsystem FCAS. Beide Länder unterschreiben gleichlautende Sicherheitsabkommen mit der Ukraine.

Die Krise der Zivilgesellschaft

George Steiner im Jahre 2013 (Copyright: Wikimedia Commons)

Wir kommen auf das entscheidende Gebiet. Auf das Innen. Die Krise, die wir erleben, ist die der Zivilgesellschaft. Es geht darum, dass die Leute nicht mehr in die Kirche gehen, sich scheiden lassen, fragmentiert leben. Es geht um die Zersplitterung. Um den Verlust des Vertrauens in die demokratischen Institutionen. Es geht um zunehmende Barbarei. So hat das Niall Ferguson beschrieben. Unsere „jämmerliche Autonomie“ bedeute uns mehr als alles andere. Da sei eine Gedankenlosigkeit am Werk, als ob alles immer gleich weiterginge und sich Mühe nicht lohne. Und das schlägt sich auch auf das deutsch-französische Verhältnis nieder, niemand spricht mehr von Schicksalsgemeinschaft. Niemand traut sich mehr an eine große Idee oder einen großen europäischen Entwurf. Wohin wird das führen? Die Optimisten sagen, die beiden Länder hätten sich zugunsten Europas immer wieder am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen, die Pessimisten glauben nicht mehr daran. Für George Steiner ist der Abstieg Europas beschlossene Sache. Europa ist müde, Deutschland und Frankreich sind erschöpft.

Echter Dialog notwendig

René Girard gibt dem alten Europa noch eine Chance. Die Europäer könnten sich immer noch zur Zusammenarbeit, zum Aufbruch, zur Rettung entscheiden. Aber nur dann, wenn es zu einem echten Dialog zwischen Deutschland und Frankreich käme – zu einer großen Erzählung über die geopolitische und spirituelle Bedeutung Europas in der Welt, deren Möglichkeit selbst George Steiner nicht ganz ausschließen will.

Girard fordert zudem eine innere Konversion. Konversion? Notlagen befeuern Konversionen. Ob Ölpreisschock, Fall der Mauer, Finanzkrise oder Zeitenwende: Politisch gäbe es sie häufiger als man glaube, meint der Historiker Andreas Rödder.

Georgi Arbatov, einst Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU, sagte nach dem Untergang der Sowjetunion Anfang der 1990er, die Russen hätten uns das Schlimmste angetan, was man uns nur antun kann: Sie hätten uns den Feind genommen. Seit 2022 ist er wieder da. Die Schreie der Opfer von Butscha und das andauernde Morden Russlands in der Ukraine haben das Zeug, Europa aus seiner Lethargie zu wecken.

Dieser Beitrag ist Teil einer Diskussion, die im März von Gérard Araud und Ulrike Franke eröffnet und kürzlich von Jean-Marie Magro fortgeführt wurde.

Der Autor

Nach seiner Tätigkeit für die Europäische Kommission in Brüssel wechselte Klaus Bernhard Hofmann als Sprecher des Wirtschaftsministeriums in die thüringische Landeshauptstadt Erfurt. Ab 2000 war Hofmann Unternehmenssprecher und Leiter Corporate Public Relations/Public Affairs der Schott AG und von 2006 – 2010 Geschäftsführer der Schott Jenaer Glas GmbH. Für Schott war er Mitglied im Vorstand des Bundesverbandes Solarwirtschaft (BSW) in Berlin und der European Renewable Energies Federation (EREF) in Brüssel. 2011 gehörte Hofmann als Mitglied zum Kompetenzteam von Julia Klöckner. Seit 2014 ist er Geschäftsführer Kommunikation des VAA Führungskräfte Chemie.

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